Werkeinführung zu:
Antonin Dvorak : ‚Stabat mater dolorosa’
Konzertchor Lippstadt, Singakademie Plauen
Neue Philharmonie Westfalen
Camilla Nylund, Sopran ; Kerstin Descher, Alt; Anton Saris, Tenor; Peter
Lobert, Bass
Leitung : Burkhard A. Schmitt
07.09.2014
Stadttheater Lippstadt / Foyer des ‚Ostendorf-Gymnasiums’
Sehr geehrte Damen und Herren!
Als nach der Wiedervereinigung in der Berliner ‚Neuen Wache’ unter den Linden eine vergrößerte Kopie der von Käthe Kollwitz geschaffenen ‚Pieta’ aufgestellt wurde, mit der die Künstlerin ihren Schmerz über den Tod des gefallenen Sohnes zu verarbeiten versuchte, wurde in unserem Lande ein bemerkenswerter Akzent in der Formulierung öffentlich-
gesellschaftlicher Trauerarbeit gesetzt. In bewusster Abwendung von allen Resten von Heldenverehrung wurde mit der ‚Pieta’ ein Bild gewählt, das in der abendländischen Kunst – ich erinnere an die Marmorskulptur von Michelangelo im Petersdom – Trauer und Schmerz Marias, der ‚mater dolorosa’, angesichts des gekreuzigten Christus thematisiert. Mit ’Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft’ – so der Schriftzug unter der Skulptur von Käthe Kollwitz – wurde und wird fortwährend und millionenfach Christus ans Kreuz geschlagen und in den Tränen von Millionen von Müttern, die die geschundenen und gemeuchelten Leiber ihrer toten Kinder betrachten oder in den Armen halten, wiederholen sich die Tränen Marias.
Und so macht es Sinn, in Erinnerung an die vor einhundert und vor fünfundsiebzig Jahren beginnenden Weltkriege, sich der Trauer der Opfer mit Dvoraks großem Oratorium ‚Stabat Mater dolorosa’ zu vergegenwärtigen. Dazu kommt, dass die tschechische Kulturnation, in der Dvorak beheimatet ist und deren musikalische Entwicklung er wesentlich mitgeprägt hat, von beiden Weltkriegen und ihren Folgen nicht unbeeinflusst gewesen ist: Wurde durch die Unabhängigkeit nach dem ersten Weltkrieg die Herausbildung der nationalen kulturellen Identität gefördert, so versuchten der zweite Weltkrieg und die faschistische Okkupation dieser den Garaus zu machen. Und das an nationaler Kultur, was nach dem zweiten Weltkrieg die Stalinisten zuließen, bedeckten diese mit dem Mehltau ihrer paranoiden und kleinlich-gehässigen Zensur, folglich Avantgarde und Kreativität in gesellschaftliche Nischen ausweichen mussten. So kam es nicht von ungefähr, dass Tschechen und Slowaken bei Erreichen demokratischer Verhältnisse mit Vaclav Havel einen Schriftsteller aus der Tradition Franz Kafka’s zum Präsidenten wählten. Ich habe mich nun in dieser Werkeinführung in mehreren Schritten dem opus genähert:
Das ‚Stabat Mater’ ist ein gereimtes Gedicht des hohen Mittelalters. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde es von dem Franziskanermönch Johannes Bonaventura (1221-1274) verfasst, der kirchengeschichtlich u.a. dadurch bekannt war, dass er im franziskanischen Armutsstreit zwischen den ‚fratres de communitate’ und den radikalen ‚Fratizellen’ erfolgreich vermittelte und seitdem als ‚zweiter Stifter’ des Franziskanerordens galt. Er wurde Kardinal, bereitete das Lyoner Konzil vor und galt in der Nachfolge von Augustinus und Thomas von Aquin als herausragender scholastischer und mystischer Theologe. 1482
heiliggesprochen wurde er 1588 von Sixtus V. zum Kirchenlehrer erklärt. Joseph Ratzinger schrieb seine Habilitation über Bonaventura’s Geschichtstheologie.
Das Gedicht ‚Stabat mater’ handelt von der Klage Maria’s angesichts der Kreuzigung ihres Sohnes. Es beschreibt einen Teil ihrer ‚Sieben Schmerzen’: Mit dem Leiden und Sterben Christi der fünfte Schmerz und mit der Kreuzabnahme und der Beweinung Christi der sechste. Im 16. Jahrhundert wurde die Sequenz ‚Stabat Mater’ in das Missale Romanum, das damals gültige Messbuch der Römischen Kirche aufgenommen, woraus es jedoch vom Konzil von Trient wie die meisten Sequenzen wieder entfernt wurde. Erst 1727 wurde es mit der Etablierung des Festes Septem Dolorum Beatae Mariae Virginis am 15.September wieder in die Messliturgie integriert. Noch heute ist in der Slowakei dies ein kirchlicher Feiertag, denn die Maria der Schmerzen ist die Schutzpatronin dieses Landes. Im alten ‚Gotteslob’ ist das ‚Stabat Mater’ in gekürzter Fassung als ‚Christi Mutter stand mit Schmerzen’ unter der Nummer 532 enthalten.
Das ‚Stabat Mater’ in der von Dvorak benutzten liturgischen Fassung besteht aus zehn Strophen, wovon jede in zwei dreizeilige Teilstrophen unterteilt ist. „Dies deutet darauf hin, dass das ‚Stabat Mater’ als Sequenz von zwei Halbchören gesungen worden ist, wobei zuerst der erste Halbchor die erste Teilstrophe auf eine Melodie gesungen und dann der zweite Halbchor mit der zweiten Strophe auf die gleiche Melodie geantwortet hat.“ (WIKIPEDIA) Das Versmass der Strophen besteht aus drei trochäischen Dimetern, wobei in der dritten Zeile das Metrum um einen Takt verkürzt ist. Das Reimschema gestaltet sich nach AABCCB, man bezeichnet diese Reimform als Schweifreim oder Zwischenreim.
Der Text ist gemäß der Sicht eines Beobachters oder Erzählers strukturiert, der sich im Verlauf direkt an Maria wendet und so zum Handelnden und Bittenden wird :
Dieser Erzähler beschreibt in den ersten Strophen das Leiden der Mutter Jesu beim Anblick seiner Qualen am Kreuz. Die Wahrnehmung Jesu’ Schmerzen durchbohrte wie ein Schwert ihre Seele und solange sie seinen Leiden zusah, zitterte sie körperlich: „ Et tremebat, dum videbat, nati poenas incliti.“ (Sie zitterte, solange sie den Leiden des gebeugten
Sohnes zusah.)
In der dritten Strophe wendet sich der Erzähler an die Menschen, indem er fragt, wer angesichts der Schmerzen Marias, die mit ihrem Sohn leidet, nicht mitweint, mittrauert: „Quis est homo, qui non fleret…..? Quis non posset contristari….?“ (Wer ist der Mensch, der nicht weint…? Wer könnte nicht mittrauern…?). Danach wird noch einmal der Schmerz Maria’s beschrieben beim Anblick von Folter und Tod, welche ihr Sohn zu erleiden hatte.
Zur fünften Strophe findet der schon angedeutete Perspektivwechsel statt. Der Erzähler wendet sich nun direkt an Maria, die er bittet, seine Mittrauer zu veranlassen „…fac, ut tecum lugeam.“ (…mach, dass ich mit Dir trauere.) Dieser Wunsch steigert sich nun über mehrere Strophen: es wird Maria’s Mittlerrolle angesprochen, die dafür sorgen soll, dass sie die Leiden Ihres Sohnes mit ihm, dem erzählenden Menschen, teilt „…poenas mecum divide.“ Und das ein Leben lang : „Fac me……crucifixo
condolere, donec ego vixero.“ (Mach, dass ich mit dem Gekreuzigten mitleide, solange ich leben werde.) Und dieses Mitleiden, der Wunsch, Jesu Wunden selbst zu tragen, soll dann am Ende dieses Lebens Maria veranlassen, ihn am Tage des jüngsten Gerichtes zu verteidigen: „….per te, virgo, sim defensus in die judicii.“ (Möge ich durch Dich, Jungfrau,
verteidigt werden am Tag des Gerichtes).
Die aufgebaute Spannung löst sich in der zehnten und letzten Strophe. Es ist die Bitte um Gnade angesichts des Kreuzestodes Christi sowie die Bitte um die Verheißung des Paradieses für seine Seele, wenn der Leib stirbt: „Fac me….confoveri gratia.“ (Mach, dass ich……begünstigt sei aus Gnade.) und „Fac, ut animae donetur paradisi gloria.“ (Mach, dass der Seele die Herrlichkeit des Paradieses geschenkt werde.)
Der Schluss des Gedichtes, der in der Auferstehungs- und Erlösungsvision endet, beschreibt somit das Beziehungsdreieck
zwischen dem gekreuzigten Christus, der leidenden Mutter Maria und dem um Mitleidendürfen und Gnade bittenden Menschen. Trauer und Erlösungsgewissheit heben sich damit auf und werden zur Quelle von Trost.
2. Antonin Dvorak und das ‚Stabat Mater’
Antonin Dvorak ist neben Bedrich Smetana der bekannteste tschechische Komponist der Spätromantik. Genau wie dieser gilt er als exponierter Vertreter einer nationalen tschechischen Musikkultur, was nicht nur anhand seiner sechzehn ‚Slawischen Tänze’ deutlich wird. 1841 wurde er in Nelahozeves an der Moldau nördlich von Prag geboren. Seine Eltern hatten dort eine Metzgerei, aber der Vater, der neben Zither auch Geige und Bratsche spielte, gab diese später auf, um professionell als Orchesterbratschist sein Berufsleben zu gestalten. So wuchs der kleine Antonin in einem familiären Milieu auf, das durch Musik geprägt war. Schon mit sechs Jahren bekam er vom örtlichen Dorfschullehrer und Organisten im Violinenspiel und Gesang Unterricht, als Zwölfjähriger wurde er zur städtischen Fortbildungsschule nach Zlonice geschickt, fünfzehn Kilometer westlich seines Heimatortes. Dort unterwies ihn Antonin Liehmann in Violine, Viola und Klavier sowie in Harmonielehre und Generalbass. Außerdem verbesserte er hier seine Deutschkenntnisse.
Mit sechzehn Jahren wechselte Dvorak nach Prag an die Organistenschule, die er zwei Jahre später als Zweitbester seines
Jahrganges abschloss. Da er im Anschluss daran keine feste Stelle als Organist erhielt, spielte er in den darauffolgenden Jahren als Bratschist in der Kapelle von Karl Komzak vornehmlich Potpourris, Ouvertüren und Tänze – also das ganze mehr leichte Programm der klassischen Muse, was man heute noch z.B. bei den Kolonnadenkonzerten in den böhmischen Kurorten zu hören bekommt. Daneben erteilte er Unterricht, spielte mal hier, mal da Orgel und befasste sich autodidaktisch mit Komposition. Deren Produkte landeten in der Regel in der Schublade, hatten aber wohl vor allen Dingen die Funktion, den eigenen Stil an den
Kompositionsmerkmalen von Mozart und Beethoven, Mendelssohn, Schumann und Wagner zu entwickeln. 1873 heiratete er seine ehemalige Klavierschülerin Anna Cermakova.
Über die Kapelle von Komzak kam er an das Interimstheater Prag, in dessen Orchester diese Kapelle 1865 überging. Somit wurde Dvorak als festangestellter Solobratschist Ensemblemitglied dieses Hauses und nahm u,a. an der Uraufführung von Smetana’s Oper ‚Die verkaufte Braut’ teil. Das Interimstheater hatte für die Entwicklung national geprägter tschechischer Opern und Schauspiele eine zunehmend überragende Bedeutung.
In dieser Phase seines musikalischen Werdeganges veröffentlichte Dvorak seine ersten Kompositionen, vorwiegend Liedsätze und Streichquartette, aber auch Opern. Sein Hymnus für Chor und Orchester „Die Erben des Weißen Berges“ traf nicht nur thematisch die nationale Gefühlslage der nach Unabhängigkeit strebenden Tschechen, sondern zeigte auch die beginnende kompositorische Reife des jungen Dvorak und brachte ihm in Prag gute Kritiken ein. In den siebziger Jahren gab er seine Stelle als Orchestermusiker auf, nahm stattdessen eine Organistenstelle an und gab verstärkt Unterricht. Dies bot ihm mehr Möglichkeiten, sich schwerpunktmäßig dem Komponieren zu widmen, was zudem noch ökonomisch durch ein staatliches Stipendium abgesichert wurde.
Der richtige Durchbruch wurde 1877 von seinem Freund Johannes Brahms gefördert. Dieser setzte sich dafür ein, dass sein Verleger Fritz Simrock eine Duettsammlung Dvorak’s, die „Klänge aus Mähren“, veröffentlichte. Damit begann die langjährige Zusammenarbeit zwischen Dvorak und Simrock.
Seit den achtziger Jahren ist Dvorak nicht nur Exponent der klassischen Musikszene in seinem Heimatland, sondern auch quasi an einer Globalisierung des Musikgeschehens beteiligt: Er reist nach Russland, mehrere Male nach England und in die Vereinigten Staaten. Er gibt dort nicht nur diverse Konzerte oder auch Kompositionsunterricht, sondern er widmet
sich, insbesondere in Amerika, musikwissenschaftlichen Studien der Gesänge unterschiedlicher Ethnien und integriert die Ergebnisse in Kompositionen. Am bekanntesten davon war die 9. Symphonie „Aus der neuen Welt“.
Doch der Schwerpunkt seines Lebens und seines kreativen und sehr umfangreichen Schaffens ist Prag, in dem er verwurzelt ist und das er der Übersiedlung nach Wien vorzieht. Hier wird er Ehrendoktor der Universität und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. In seinem Werk gehen bei Dvorak verschiedenste Stilprägungen unterschiedliche Amalgierungen ein. Je nach Beschäftigung mit den unterschiedlichsten Komponisten aus Klassik und Romantik gibt es immer wieder Neuorientierungen in Klangbild und Kompositionsmerkmalen. Wie ein roter Faden zieht sich jedoch die Integration von Elementen der Volksmusik durch seine Musik. Besonders ab 1873 sucht und findet er seinen eigenen nationalen Stil. Man spricht von zwei slawischen
Schaffensperioden (1876–1881 und 1886–1891), die besonders tschechisch-folkloristisch geprägt waren. Dass er in den in Amerika entstandenen Werken das typisch amerikanische Kolorit einzufangen versuchte, habe ich bereits erwähnt. Bemerkenswert ist, dass Dvorak zum Ende seines Schaffens kaum noch Kammer- und sinfonische Musik
schreibt und stattdessen eine Fülle von Opern komponiert.
Mit Dvoraks vielseitigem Werk, in dem sich Heimatliebe, Naturverbundenheit, tiefe Religiosität und Lebensbejahung wiederspiegelten, wurde das fortgesetzt, was Bedrich Smetana mit seinem Zyklus ‚Mein Vaterland’ begonnen hatte: das tschechische Musikschaffen fand seine unverwechselbare nationale Identität. Gleichzeitig zeigt aber Dvoraks Verwurzelung in Klassik und Romantik, seine Bewunderung gegenüber Brahms und Wagner und seine internationale Vernetzung, dass er nicht mit den Scheuklappen des Chauvinismus durch die Welt ging, sondern mit Neugier auf das Andere, mit Offenheit und Toleranz.
Als er am 1.Mai 1904 in Prag starb, trauerte die internationale Musikwelt und er wurde unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt. Was veranlasste nun Dvorak, auf dem Hintergrund der skizzierten Biografie, aus der eigentlich positive Lebensbejahung spricht, sich so intensiv mit der tragischen Thematik der trauernden Maria auseinander zu setzen und das ‚Stabat mater’ zu vertonen?
Die emotional verständlichsten Gründe dafür sind die dramatischen und todtraurigen Schicksalsschläge, die ihn und seine junge Frau trafen: Im September 1875 starb ihre Tochter Josefa zwei Tage nach der Geburt. In der Folge darauf führt die erste Beschäftigung mit dem Leid Maria’s zur Identifikation mit dieser und zu den ersten Skizzen für ein Oratorium.
Dvorak war gläubiger Katholik und mit der Geschichte Maria’ s eng vertraut, welche im Volksglauben bei Tschechen und Slowaken tief verwurzelt ist. Nach dem Tode von zwei weiteren Kindern im Jahre 1877 stand das Paar kinderlos da. Er nahm die Arbeit an den ersten Entwürfen wieder auf und stellte das Oratorium zum 13. November 1877 fertig.
Zusätzlich muss erwähnt werden, dass es vom ‚Stabat mater’ diverse Vertonungen klassischer Komponisten gibt, die auch heute noch oft aufgeführt werden. Nicht immer wurde der Text vollständig genutzt, persönliche Zielsetzungen der Komponisten und unterschiedliche Motivationen führten zur Bearbeitung der Themen Trost, Leid und Klage. Die bekanntesten klassischen Schöpfer einer Vertonung des ‚Stabat mater’ sind: Scarlatti, Vivaldi, Pergolesi, Johann Sebastian Bach (der die Vertonung von Pergolesi bearbeitete), Josef Haydn, Boccherini, Schubert, Rossini, Liszt, Rheinberger, Verdi und Poulenc. Die Reihe lässt sich bis
in das 21. Jahrhundert fortsetzen, so dass man sagen kann: dieses Gedicht über die Schmerzen der Mutter Jesu hat nach wie vor Aktualität für eine emotionale musikalische Auseinandersetzung mit einer solchen Leidensthematik.
1880, einen Tag vor Heiligabend, wurde das ‚Stabat mater’ in Prag beim Jahreskonzert des Verbandes der Musikkünstler mit wohlwollender Aufnahme durch das Publikum uraufgeführt. Die Druckversion der Partitur erschien bei Simrock im Herbst 1881, Dvorak war mit der Ausführung sehr zufrieden. Nach einigen erfolgreichen Aufführungen in Böhmen und Ungarn war es das erste Mal im März 1883 in London zu hören, wo es dann ein Jahr später in der ‚Royal Albert Hall’ vom Komponisten persönlich dirigiert wurde. Ein riesiges Orchester und ein über 800köpfiger Chor begeisterten das oratorienversessene britische Publikum. Mehrere Monate später folgte eine Aufführung in der Kathedrale von Worcester anlässlich der 800-Jahrfeier dieses Gotteshauses. Es dauerte einige Jahre, bis das ‚Stabat mater’ auch in Deutschland und Österreich sein Publikum fand, erst 1888 wurde es von Hans Richter in Wien aufgeführt. Indessen aber gehört es zu den meistaufgeführten Chorwerken des Komponisten und zum Standardrepertoire von Orchestern und Konzertchören.
3. Inhalt und Ablauf des Oratoriums
Das ‚Stabat mater’ unterscheidet sich von den klassischen Oratorien wesentlich: Die formale Struktur der Heiligen Messe, die in den traditionellen Requiems den Ablauf bestimmt, ist bei ihm überhaupt nicht sichtbar. Das liegt natürlich an der literarischen Vorlage. Dvorak hat dementsprechend die Vertonung des mittelalterlichen Gedichtes als erweiterte Kantate von vornherein für den Konzertsaal und nicht für die Messe bestimmt.
Dvorak löst für seinen Satzaufbau des Werkes die stringente Struktur der Vorlage der 10 Doppelstrophen auf, er verlässt die strenge textgebundene Syntax der lateinischen Sequenz zugunsten einer Satzgliederung, die durch den Ausdruck von Grundstimmungen und Visionen bestimmt wird, er ordnet die Sätze atmosphärisch, je nach emotionaler Intensität.
Dementsprechend geraten sie auch unterschiedlich lang, je nach ihrer dramaturgischen Funktion, die sie im Gesamtopus einnehmen.
So fasst der erste Satz zwei Doppelstrophen der liturgischen Vorlage zusammen und spielt intensiv und extensiv mit allen zur Verfügung stehenden sprachlichen und musikalischen Mitteln das Leiden der Maria angesichts des Leidens Christi in komplexer Weise durch: Orchester, Chor und Solistenquartett transportieren in einem ständigen Wechsel von piano und forte, chromatischen Steigerungen sowie dialogischem Arrangement zwischen Chor und Solisten den mütterlichen Schmerz
angesichts des Kreuzes, den Aufschrei empfundener Ungerechtigkeit über dieses Leid und leise anklingende Versuche, Trost zu spenden. Dabei fehlt es nicht an Symbolik: Gleich zu Beginn variiert er die Note FIS – das erste Kreuz in der Notensprache – für die Beschreibung der Kreuzigungsszene. Der erste Satz des Werkes ist mit seinen fast zwanzig Minuten der längste. Er legt sozusagen die thematische und handlungsbezogene Basis für das Gesamtwerk. Das Orchester beginnt das Oratorium verhalten, besonders die Streicher steigern ihre Wehklage dramatisch im mächtig klingenden h-moll, unterlegt von Hörnern und
Schlägen der Pauke. Mit dem Choreinsatz, der vom Tenor allein, tief traurig und filigran-behutsam begonnen wird, beginnt die Beschreibung der Schmerzen Marias, einmündend in die Klage des Gesamtchores (HÖRBEISPIEL I: DVORAK, a.a.O., 1. Satz, Takte 43-93).
In der Folge variieren Chor, Orchester und Solisten dialogisch das Grundthema. Gerade die Streicher steigern mit chromatischen crescendi den Chor zu dramatischen Ausbrüchen, hin zu kollektivem Aufschrei über das Leid angesichts der Kreuzigung und Maria’s Schmerzen. Die klangliche Intensität diese ersten Satzes unterstreicht, dass hier mit der Beschreibung Golgatha’s die Grundlage für den weiteren Verlauf gelegt wird, der in der Erlösungshoffnung enden soll (HÖRBEISPIEL II: ebenda,
1. Satz, Takte 285-313).
Die leidenschaftlich-klagende Fortsetzung der Beschreibung der Schmerzen Maria’s durch das Solistenquartett im zweiten Satz öffnet mit gefühlvoll fragendem Impetus die Szenerie: Wer von Euch Menschen weint nicht angesichts der Leiden Maria’s, wer kann nicht mittrauern? Die Zärtlichkeit, die das Quartett dabei ausströmt, lässt einen unwillkürlich an das persönliche Leid des Komponisten und seiner Gattin denken, sie hat auch etwas Tröstliches an sich. (HÖRBEISPIEL III: ebenda, 2. Satz, Takte 7-52)
Im dritten Satz übernimmt der Chor – ohne die Solisten – die Rolle des Gedichterzählers, der sich unmittelbar an Maria wendet, die doch veranlassen soll, dass er mit ihr trauern kann. Er trägt sein Mitleid an sie heran, er bemüht sich um Mitgefühl und Identifikation mit der Mutter Jesu’. Dies geschieht in Form eines Trauermarsches, dessen Melodie die Begräbnisprozession in einem böhmischen Dorf assoziiert. Hier klingen unterschiedliche Gefühlslagen an : Leises Melodisch-tröstliches wechselt mit energisch-dramatischem Flehen in Form der ‚Fac’- Rufe (Mach! Dass ich mit Dir leide!) in markantem forte . (HÖRBEISPIEL IV:
ebenda, 3. Satz, Takte 7-18)
Satz vier steigert das Bitten um Mitleidendürfen in der Form, dass dem Erzähler durch Maria geholfen wird, über seinen Glauben Zugang zu Christi Leiden zu bekommen. Im Dialog von Solobass und Chor wird zu einem choralhaften, feierlichen Hymnus hingeführt, der von Dvorak – welcher ja ursprünglich auch Organist war – von Orgelbegleitung unterlegt wird.
Der fünfte Satz „Tui nati vulnerati“ wird wieder allein durch den Chor dargeboten: Die Musik klingt pastoral, weich und tröstlich, der Dreivierteltakt lässt sie wie ein Wiegenlied erscheinen. Es ist die Bitte, um mit Maria mitleiden zu dürfen: „..poenas mecom divide..“ („… die Leiden teile mit mir…“). Zwei Aspekte sind hier wichtig: die zum Schluss auftauchende Erlösungsbotschaft wird hier bereits angedeutet und das Klangbild – besonders durch die Holzbläserbegleitung geprägt – ist von böhmisch-volkstümlichen Elementen bestimmt. (HÖRBEISPIEL V: ebenda, Satz 5, Takte 9-17).
Im sechsten Satz „Fac me vere tecum flere, crucifixo condolere, …..“ wird der Mitleidenswunsch des erzählenden Menschen auf Christus projiziert, sozusagen über Maria hinausgehend. Das mag der Grund sein, weshalb Dvorak die musikalische Präsentation auf Tenor und Männerchor focussiert. Im Dialog steigern sich Solist und Choristen von inniger, teilweise im Pianissimo vorgetragener flehentlicher Bitte hin zum nachdrücklichen Forte mit dramatisch klingenden Akzenten. (HÖRBEISPIEL VI: ebenda, Satz 6, Takte 17-32).
Der innige Chor des kurzen siebten Satzes wendet sich wieder an Maria und wiederholt die Bitte, mit ihr klagen zudürfen. Seine Eindringlichkeit wird durch seine Schlichtheit und Inbrunst hergestellt. Frömmigkeit und Zuversicht, die Grundlagen der Marienverehrung des einfachen Volkes, kommen hier zum Ausdruck.
Die Sätze acht und neun sind in Dvorak’s Darstellungskonzept des ‚Stabat Mater’ den Solisten vorbehalten. Der Grund dafür liegt m.A.n. in der sich zuspitzenden, sich individualisierenden und personifizierenden Problematik:
Das Duett von Sopran und Tenor im Satz acht „Fac ut portem Christi mortem“ projiziert den Leidenswunsch das Erzählers endgültig auf Christus. Gerade die von den Holzbläsern begleitete Melodie des Sopranes mit seiner expressiven Lieblichkeit erinnert an das Bild von Christus als Bräutigam. Die Vereinigung mit dem Tenor zum Duett, unterstützt durch die Zartheit der Streicherbegleitung, assoziiert ein opernhaftes Liebesduett.
Mit der Altarie im neunten Satz „inflammatus et accensus“ wird auf das Ende des Oratoriums hingesteuert: die substantiell gravierendeste Bitte, die an Maria herangetragen werden kann, nämlich die Bitte um Verteidigung vor dem jüngsten Gericht, um Eintreten für Vergebung und Gnade, wird hier vom Alt in einer fast schon fordernden Eindringlichkeit vorgetragen. Sie wird dabei durch eine unerbittlich erscheinende Streicherbegleitung unterstützt.
Im zehnten Satz „Quando corpus“ löst sich die über die letzten Sätze aufgebaute Spannung. Das Orchester beginnt wie im ersten Satz. Damit und durch das Auftreten des Solistenquartetts wie im ersten wird die Rahmenfunktion dieser beiden Sätze deutlich.
Es schließt sich der Kreis. Am Ende steht die Gewissheit, dass mit dem Tod der Seele des Paradieses Herrlichkeit geschenkt wird. Trotz der strukturellen Parallelität der beiden Sätze, z.B. was den Auftritt des Solistenquartetts betrifft, unterscheiden sie sich vor allen in ihrer klanglichen Expressivität gewaltig: Während im ersten Satz in chromatischen h-moll-Sequenzen auf Golgatha in seiner ganzen Traurigkeit hingeführt wird, endet der crescendierende Hymnus mit der Aussicht auf das Paradies in einem dramatisch jubelnden dreifachen ‚Forte’. Das ist die Verheißung der Auferstehung über den Tod, kulminierend in einem klaren D-Dur-Akkord (HÖRBEISPIEL VII: ebenda, Satz 10, Takte 28-53).
Die Schlusstakte werden von einem fugenhaften ‚Amen’ bestimmt, das zu Anfang in schnellem Tempo die ganze Freude über Erlösung und Auferstehung jubilierend zum Ausdruck bringt. Am Ende aber nimmt Dvorak die Lautstärke zurück und lässt das letzte Amen vom klagenden Thema des ersten Satzes untermalen sowie mit einem kräftigen ‚Forte’ bestimmend enden, so als wollte er sagen: vergesst bei allem Jubilieren über die Erlösung die Trauer des Leidens nicht. (HÖRBEISPIEL VIII: ebenda, Satz 10, Takte 199-211 ).
4. Fazit
Es ist individuelle Glaubenssache, ob die Hoffnung auf das Paradies Trost für alle die ist, die jemanden aus ihrem engeren familiären und emotionalen Umfeld im Krieg und durch Krieg verloren haben. Dvoraks eigene Motivation, dieses Oratorium zu schreiben, wird ja bekanntlich durch persönliche Schicksalsschläge, den Tod dreier Kleinkinder, bestimmt. Wenn wir das Oratorium heute hören, soll es uns an ähnliche Ereignisse erinnern, wozu Leid und Opfer, die durch die beiden Weltkriege hervorgerufen wurden, wesentlich gehören. Und gleichzeitig soll es uns daran mahnen, dass auch heute, tagtäglich, Opfer von kriegerischen Auseinandersetzungen zu beklagen sind. Wir können deshalb nur Gott bitten, dass diese nicht die Dimensionen der Weltkriege annehmen. Und wir können hoffen, dass sie durch diplomatische und politische Entscheidungen so schnell es geht beendet werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Quellen:
1. de.wikipedia.org/stabat_mater
2. DVORAK, Stabat Mater Opus 58 (Klavierauszug), Edition Peters Nr.
8639
3. http://www_chor_berlin-schlachtensee.de/Konzerte/zu-den-
werken/dvorak-antonin-stabat-mater/
4. Klassik-musica-classica.blogspot.de/2010/03/Klassikers-
lieblingsstücke-ii-dvorak.html.
5. www.solitude-chor/dvorak.php
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