Gib ihnen Frieden! - Werkeinführung

Friedhelm Arnoldt

Werkeinführung zu: Antonin Dvorak : ‚Requiem‘
Konzertchor Lippstadt, Konzertchor Wirges
Bergische Symphoniker
Camilla Nylund, Sopran; Monika Mascus, Mezzo-Sopran;
Anton Saris, Tenor; Marek Garsztecki, Bass
Leitung : Burkhard A. Schmitt
024..02.2018
Stadttheater Lippstadt / Foyer des ‚Ostendorf-Gymnasiums

Sehr geehrte Damen und Herren!
Der tschechische Nationalkomponist Antonin Dvorak reiht sich mit seiner
Komposition des ‚Requiem‘ ein in eine illustre Reihe von Musikschaffenden vom Barock bis zur Moderne, für die die schöpferische Umsetzung der Totenmesse in instrumentale und vokale Klangbilder nicht nur musikalische Herausforderung, sondern auch normative Verpflichtung war. Das schlägt sich bis heute nieder nicht nur in der Vielzahl der Komponisten, die in dem genannten Zeitraum ein ‚Requiem‘ geschaffen haben, sondern auch in der Aufführungspraxis von Orchestern und Chören. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Requien von Verdi und Mozart, die der Konzertchor Lippstadt hier in den letzten Jahren aufgeführt hat und auch an das ‚Deutsche Requiem‘ des Protestanten Brahms, der in seiner Genialität den lateinischen Messetext durch Textteile aus der Lutherbibel ersetzt hatte. Wir haben dies u.a. mit der ‚Baltischen Philharmonie‘ in Lippstadt und Danzig zur Aufführung gebracht.

Zwei Aspekte stelle ich der näheren Analyse des Werkes voran, die für die Motivation Dvorak’s m.A.n. mitverantwortlich sind, dass er sich an die Komposition dieses umfassenden opus gemacht hat:

  • Zum einen war Dvorak ein gläubiger Katholik, sehr heimatverbunden und ohne intellektuelle Brüche. Er las jeden Tag in der Bibel und versuchte, so oft es ging, die Heilige Messe zu besuchen. Das wird u.a. daran deutlich, dass er nicht nur das ‚Requiem‘ als geistliches Werk schuf, sondern auch das ‚Stabat Mater‘ vertonte und die ‚Messe in D-dur‘ schrieb. Darüber hinaus war Dvorak als Organist vertraut mit dem an Palestrina orientierten A-capella-Stil der Cäcilianisten, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts die katholische Kirchenmusik wesentlich prägten. Aber: Dvorak wahrte als Komponist eine bemerkenswerte Distanz zu den Bestrebungen dieser restaurativen und dogmatischen katholischen Reformbewegung, die außer einer Unzahl gleichförmig-mittelmäßiger Motetten keine Werke hervorgebracht hatte, die den Weg in die Moderne auf der kompositorischen Ebene betreten hätten. Er hat sich in der kompositorischen Vielfalt seines ‚Requiem‘ durchaus an den in die Moderne strebenden Musikschaffenden wie Bruckner und Wagner orientiert, was sich auch anhand einiger im Atonalen experimentierender Taktstellen belegen lässt.
  • Zum anderen war das ‚Requiem‘ ein Auftragswerk, wesentlich nicht für die Kirche, sondern für den Konzertsaal komponiert. Es steht insofern in der Tradition von Werken, die Dvorak für das englische oratorien- und chorbegeisterte Publikum geschaffen hatte : 1885 war es ‚Die Geisterbraut‘ für das Chorfestival in Birmingham und ein Jahr später die Uraufführung der ‚Heiligen Ludmilla‘ in Leeds, mit denen er große Erfolge feiern konnte. In England war Dvorak da schon kein Unbekannter, hatte er doch unter riesigem Beifall 1883 in der ‚Royal Albert Hall‘ in London sein ‚Stabat Mater‘
    dirigiert.

Ich habe mich nun in dieser Werkeinführung in mehreren Schritten dem opus genähert:

  • Zu aller erst möchte ich einige Anmerkungen zur Geschichte und zur kompositorischen Tradition von Requiem-Vertonungen
    machen, Zum Zweiten werde ich auf Dvorak’s musikalische Biografie eingehen sowie die  Werkgeschichte seines ‚Requiem‘ skizzieren.
  • Im dritten Teil folgt dann die Beschreibung des Werkes mit einigen Hörbeispielen.
  • Ein kurzes Fazit beschließt meine Ausführungen.

1. ‚Requiem‘ als musikalische Gattung

Liturgisch wird das ‚Requiem‘ als ‚Missa pro defunctis‘ (Messe für die Gestorbenen), als Sterbeamt bzw. als die heilige Messe für Verstorbene definiert. Der Begriff bezeichnet sowohl die Liturgie der heiligen Messe bei den Begräbnisfeiern der katholischen Kirche als auch kirchenmusikalische Kompositionen für das Totengedenken. Ein musikalisches Totengedenken hat kulturell eine lange Tradition: Es hat neben der feierlichen Untermalung der Zeremonie von Begräbnis- und Trauerfeiern noch einen weiteren Effekt: den Hinterbliebenen, die in ihrer Trauer erstarrt sind, erleichtert es, zu weinen und damit ihrem Seelenschmerz Ausdruck zu verleihen (vgl. GROSSKREUTZ, V., S. 12). Bereits 1570 hat das ‚Requiem‘ seine bis heute gültige, am Allerseelentag zelebrierte Text-Gestalt, um Begräbnis- und Gedenkgottesdienste auszugestalten, wobei Textabfolge und -strukturierung im Laufe der Jahrhunderte und je nach musikalischer Tradition der Komponisten variieren konnten.

In der Regel bestehen Vertonungen des ‚Requiems‘ mit der folgenden Satzfolge :

  1. Introitus/Graduale: Requiem aeternam dona eis, Domine. (Gib ihnen
    ewigen Frieden, Herr…..)
  2. Kyrie: Kyrie eleison (Herr, erbarme Dich….)
  3. Sequenz: Dies irae (Tage des Zornes… das jüngste Gericht)
  4. Offertorium: Domine Jesu Christe (Herr Jesus Christus….)
  5. Sanctus: (Heilig, heilig…); Benedictus: Benedictus, qui venit (Gesegnet
    sei, der da kommt…..)
  6. Agnus Dei: (Lamm Gottes….)
  7. Communio: Lux perpetua :(Ewiges Licht….)

Die geistliche Funktion des ‚Requiems‘ besteht dabei nicht nur in der Trauer um die Verstorbenen, sondern im Mittelpunkt des liturgischen Textes steht auch die Kraft des Glaubens zur Überwindung der Angst vor dem jüngsten Tag, also die Stärkung der Gewissheit der Hinterbliebenen über Erlösung und Auferstehung. Damit ist der Ausweg aus der Trauer in den Trost aufgezeichnet.

Mit der Hinwendung zu den Hinterbliebenen formten die Komponisten der Romantik den Charakter des ‚Requiems‘ um:
„Vielleicht ist das der Grund, warum die Komponisten des 19. Jahrhunderts darangingen, die damals sehr beliebte Gattung aus ihrer liturgischen Funktion und den damit verbundenen Beschränkungen zu befreien und sie im öffentlichen Rahmen aufzuführen.“ (ebenda, S. 12 f.)

So ist auch zu verstehen, dass Dvorak’s protestantischer Freund Johannes Brahms – wie bereits erwähnt – das Textkonzept des
‚Requiems‘ säkularisierte: Anstelle des lateinischen Messetextes setzte er deutsche Textteile aus der Lutherbibel, die sich auch in ihrer theologisch-inhaltlichen Ausrichtung vom katholischen Ursprung des Requiems unterschieden. Nicht umsonst lautete einer der zentralen Texte im Libretto des Brahms’schen ‚Requiem‘: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“ Der zweite Aspekt dieses Säkularisierungsprozesses bestand darin, dass sich das ‚Requiem‘ als musikalische Gattung ähnlich wie die Oratorien lokal und kulturell vom Kirchenraum weg in den Konzertsaal orientierte. Und: es ging in seinen Vokalsätzen den Weg der musikalischen Fülle und Ausdifferenziertheit bürgerlicher Chormusik, löste sich zunehmend ab von der A-Capella-Polyphonie der Gregorianik.


2. Antonin Dvorak und das ‚Requiem’

Bevor ich auf den musikgeschichtlichen Zusammenhang des Dvorak’schen Requiems eingehe, lassen Sie mich einige Ausführungen zur Biografie des Komponisten machen:
Antonin Dvorak ist neben Bedrich Smetana der bekannteste tschechische Komponist der Spätromantik. Genau wie dieser gilt er als exponierter Vertreter einer nationalen tschechischen Musikkultur, was nicht nur anhand seiner sechzehn ‚Slawischen Tänze’ deutlich wird. 1841 wurde er in Nelahozeves an der Moldau nördlich von Prag geboren. Seine Eltern hatten dort eine Metzgerei, aber der Vater, der neben Zither auch Geige und Bratsche spielte, gab diese später auf, um professionell als Orchesterbratschist sein Berufsleben zu gestalten. So wuchs der kleine Antonin in einem familiären Milieu auf, das durch Musik geprägt war. Seit dem sechsten Lebensjahr bekam er Unterricht im Violinenspiel und Gesang, später dann kamen die Viola und das Klavier dazu sowie Unterweisungen in Harmonielehre und Generalbass. Mit sechzehn Jahren kam Dvorak nach Prag an die Organistenschule, deren Abschluss er als Zweitbester seines Jahrganges absolvierte. Im Anschluss daran spielte er als Bratschist in der Kapelle von Karl Komzak vornehmlich Potpourris, Ouvertüren und Tänze – also das ganze eher leichte Programm der klassischen Muse, was man heute noch z.B. bei den Kolonadenkonzerten in den böhmischen Kurorten zu hören bekommt. Daneben erteilte er Unterricht, spielte mal hier, mal da Orgel und befasste sich autodidaktisch mit Komposition. Deren Produkte landeten in der Regel in der Schublade, hatten aber wohl vor allen Dingen die Funktion, den eigenen Stil an den Kompositionsmerkmalen von Mozart und Beethoven, Mendelssohn, Schumann und Wagner zu entwickeln. Über Komzak’s Kapelle kam er an das Interimstheater Prag, in dessen Orchester diese 1865 überging. Somit wurde Dvorak als festangestellter Solobratschist Ensemblemitglied dieses Hauses. Das Interimstheater hatte für die Entwicklung national geprägter tschechischer Opern und Schauspiele eine zunehmend überragende Bedeutung. In dieser Phase seines musikalischen Werdeganges veröffentlichte Dvorak seine ersten Kompositionen, vorwiegend Liedsätze und Streichquartette, aber auch Opern. Sein Hymnus für Chor und Orchester „Die Erben des Weißen Berges“ traf nicht nur thematisch die nationale Gefühlslage der nach Unabhängigkeit strebenden Tschechen, sondern zeigte auch die beginnende kompositorische Reife des jungen Dvorak und brachte ihm in Prag gute Kritiken ein.

In den achtzehnhundertsiebziger Jahren gab er seine Stelle als Orchestermusiker auf, nahm stattdessen eine Organistenstelle an und gab verstärkt Unterricht. Dies bot ihm mehr Möglichkeiten, sich schwerpunktmäßig dem Komponieren zu widmen, was zudem noch ökonomisch durch ein staatliches Stipendium abgesichert wurde. Der richtige Durchbruch wurde 1877 von seinem Freund Johannes Brahms gefördert. Dieser setzte sich dafür ein, dass sein Verleger Fritz Simrock eine Duettsammlung Dvorak’s, die „Klänge aus Mähren“, veröffentlichte. Damit begann die langjährige Zusammenarbeit zwischen Dvorak und Simrock, die übrigens mit dem ‚Requiem‘ beendet wurde, dessen Partitur er bei Novello in London verlegen ließ.
Seit den achtzehnhundertachtziger Jahren ist Dvorak nicht nur Exponent der klassischen Musikszene in seinem Heimatland, sondern auch quasi an einer Internationalisierung des Musikgeschehens beteiligt: Er reist nach Russland, mehrere Male nach England und in die USA. Er gibt dort nicht nur diverse Konzerte oder auch Kompositionsunterricht, sondern er widmet sich, insbesondere in Amerika, musikwissenschaftlichen Studien der Gesänge unterschiedlicher Ethnien und integriert die Ergebnisse in Kompositionen. Am bekanntesten davon war die 9. Symphonie „Aus der neuen Welt“. Der Städtische Musikverein präsentiert diese am 17.03. , gespielt vom Staatsorchester Rheinische Philharmonie Koblenz. In seinem Werk gehen bei Dvorak verschiedenste Stilprägungen unterschiedliche Amalgierungen ein. Je nach Beschäftigung mit den jeweiligen Komponisten aus Klassik und Romantik gibt es immer wieder Neuorientierungen in Klangbild und Kompositionsmerkmalen. Wie ein roter Faden zieht sich jedoch die Integration von Elementen der Volksmusik durch seine Musik. Ab 1873 sucht und findet er seinen eigenen nationalen Stil. Man spricht von zwei slawischen Schaffensperioden (1876–1881 und 1886–1891), die besonders tschechisch-folkloristisch geprägt waren. Am Ende seines Schaffens komponiert er kaum noch Kammer- und sinfonische Musik, stattdessen aber eine Fülle von Opern.

Mit Dvoraks vielseitigem Werk, in dem sich Heimatliebe, Naturverbundenheit, tiefe Religiosität und Lebensbejahung widerspiegelten, wurde das fortgesetzt, was Smetana mit seinem Zyklus ‚Mein Vaterland’
begonnen hatte: das tschechische Musikschaffen fand seine unverwechselbare nationale Identität. Gleichzeitig zeigt aber Dvoraks Verwurzelung in Klassik und Romantik, seine Bewunderung gegenüber Brahms und Wagner und seine internationale Vernetzung, dass er nicht mit den Scheuklappen des Chauvinismus durch die Welt ging, sondern mit Neugier auf das Andere, mit Offenheit und Toleranz.
Als er am 1.Mai 1904 in Prag starb, trauerte die internationale Musikwelt und er wurde unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt.
Der oben skizzierten Entwicklung der Gattung ‚Requiem‘ trägt auch Dvorak Rechnung. Er nutzt zwar den klassischen lateinischen Text, aber er verlässt das traditionelle liturgische Muster, indem er die Chor- und Orchestersätze sowie die Solostimmen oratorienhaft durchkomponiert. Damit kommt er sicherlich den Erwartungen seiner Auftraggeber nach: das
Musikfestival in Birmingham ist Elgar und Mendelssohn-Bartholdy gewohnt und – ich verweise auf meine Ausführungen am Anfang – man kannte in England Dvorak bereits von seinen Konzertaufenthalten.
Zudem ist das ‚Requiem‘ aus keinem aktuellen bzw. persönlichen Anlass entstanden. Somit unterscheidet es sich vom ‚Stabat Mater‘, in dem Dvorak den eigenen Schmerz über den Verlust zweier Kinder verarbeitete. Im Januar 1889 beginnt Dvorak mit der Arbeit am ‚Requiem‘. Unterbrochen durch Reisen und Konzerte – so ein Aufenthalt bei seinem Freund Pjotr Tschaikowsky in Moskau und St. Petersburg sowie das Dirigat seiner 8. Symphonie in London – beendet er es im November 1890. Die Uraufführung folgt am 09.10.1891 beim Musikfestival in Birmingham und ist ein überwältigender Erfolg. Weitere Aufführungen folgen, so auch eine im März 1901 in Wien, wo das Publikum Dvorak feiert.

3. Inhalt und Ablauf des ‚Requiem‘

Dvorak löst sich bei der formalen Gliederung des ‚Requiem‘ von der klassischen Vorlage (s.o.). Er schafft einen zweiteiligen Entwurf, der auch unterschiedlichen inhaltlichen Funktionsbestimmungen entspricht:

  • Im ersten, längeren Teil dominieren die expressive Gestaltung und der Transport solch elementarer Gefühle wie Trauer, Schuldbekenntnis sowie die fast verzweifelte Bitte um Erlösung. Er vertont dazu die liturgischen Teile ‚Introitus‘, ‚Graduale‘ und ‚Sequenz‘. Man kann die hier vorherrschende Stimmung als beklemmend und düster, oft auch erschreckend beschreiben. Das ‚Introitus‘ und das ‚Kyrie‘ integriert er in einen Satz, der Text der ‚Sequenz‘ wird auf sechs Sätze verteilt (‚Dies irae‘, ‚Tuba mirum‘, ‚Quid sum miser‘, ‚Recordare‘, ‚Confutatis‘, ‚Lacrimosa‘), das ‚Dies irae‘ wiederholt sich noch einmal am Ende des ‚Tuba mirum‘.
  • Im zweiten Teil (‚Offertorium‘, ‚Hostias‘, ‚Sanctus‘, ‚Pie Jesu‘ und ‚Agnus Dei‘) hellt sich die Stimmung auf, hier bricht Trost durch das Dunkel, die Hoffnung auf Erlösung wird zum bestimmenden Element des musikalischen Ausdrucks..

Textlich verbunden werden die beiden Teile durch die letzten Worte der Sequenz – ‚Pie, Jesu, Domine‘ – , ein Textteil aus dem ‚Dies irae‘. Sie erscheinen wieder im Thema des zwölften Satzes.

3.1 Requiem aeternam / Kyrie

Das ‚Requiem’ beginnt mit zwei Takten, in denen das Leitmotiv des gesamten Opus vorgestellt und in der Folge variiert wird. (Hörbeispiel I, Klavierauszug Edition PETERS, Nr. 8701, I., T 1 – 15) .
„In der Verschränkung seiner Tonschritte könnte es als Symbol des Kreuzes gedeutet werden“ (SCHERNUS, H., o.S.)

Damit wird der Tod als ein das ‚Requiem‘ bestimmende Thema zum strukturellen Ordnungsprinzip, welches immer wieder aus dem Stimmgeflecht des Stückes hervorscheint – kunstvoll abgewandelt in Tonart, Rhythmus, Taktart und Klangfarbe. Das viertönige chromatische Motiv f-ges-e-f wird wie aus dem Nichts von den Streichern – pianissimo und con sordino (gedämpft) – in der Grundtonart b-moll intoniert, einer Tonart, die gerade in der Romantik häufig genutzt wird. Entsprechend dem Inhalt des ‚Introitus‘ mit seiner Anfangszeile „Requiem aeternam dona eis, Domine!“ läßt Dvorak im ersten Satz den Chor – kurz unterbrochen durch die Solostimmen – in friedvollen Tönen die demütige Bitte um ewigen Frieden formulieren. Und trotz der Gewissheit des Todes drückt sich hier die gleichzeitige Gewissheit aus, dass den Toten ewiges Licht – ‚lux aeterna‘ – leuchtet, womit unzweifelhaft das ewige Leben gemeint ist.
In der klassischen Requiem-Liturgie ist das ‚Kyrie‘ – die Bitte an Gott, sich zu erbarmen – ein eigenständiger Satz. Dvorak indes integriert es aber in das ‚Introitus‘: die Bitte um Erbarmen schließt damit eng an die Bitte um ewigen Frieden an.(Hörbeispiel II, Klavierauszug., a.a.O., I., T 128 – 151). Die Chorbässe beginnen das ‚Kyrie‘ mit b-ces-a-b-b,: also unverkennbar mit dem Leitmotiv. Sie leiten damit einen ganz kurzen, mit den anderen Chorstimmen fugal korrespondierenden Abschnitt ein, um dann das Kyrie im polyphonen Hymnus aller Chorstimmen einmünden zu lassen, den dann die Blechbläser des Orchesters beenden.

3.2 Graduale

Die Wiederholung der Bitte um Frieden durch die Sopransolistin – beginnend mit denselben Tönen des Leitmotivs wie der vorherige Chorbass, aber in der entsprechenden Tonlage – unterstreicht noch einmal die Nachdrücklichkeit des ‚Introitus‘ und die für das ganze Stück sich ergebende Bedeutung des Leitmotivs (Hörbeispiel III, Klavierauszug.,
a.a.O., II., T 1 – 12). In der Folge der Sopranarie – eingerahmt von den Frauenstimmen des Chores zu Beginn und den Männerstimmen am Ende – kommt mit dem eindringlich vorgetragenen, zwischendurch nach C-dur modulierten Graduale die Relativierung des Todesthemas zum Vorschein. Denn „…in memoria aeterna erit justus…“ (In ewigem Gedenken wird der Gerechte fortleben….) und: „…ab auditione mala non timebit!“ (…vor dem Bösen braucht er sich nicht zu fürchten!). Man könnte
meinen, hier wäre der Angst vor dem Fegefeuer die Spitze genommen..

3.3 Dies irae

Der Satz ‚Dies Irae‘ – die ‚Tage des Zornes‘ – beschreibt die Furchtbarkeit und die Dramatik des Fegefeuers. Dvorak wird dem
gerecht, indem er vor allem mit den liegenden Stimmen der tiefen Instrumente – u.a. der Bassklarinette – und des Orgelpedals in Verbindung mit den Paukenwirbeln das Inferno des Jüngsten Gerichtes lautmalerisch in Szene setzt. Gleichzeitig nimmt er die Gesangssolisten aus diesem dramatischen Szenario. Der Chor hat hier – neben dem Orchester – die durch den gesamten Satz hindurchlaufende Aufgabe, die Inszenierung von Höllenangst und ewiger Verdammnis darzustellen. (Hörbeispiel IV, Klavierauszug., a.a.O., III., T 1 – 57).

3.4 Tuba mirum

Die Fortsetzung des Jüngsten Gerichtes, seine Konkretisierung nach dem Verfahren der Recherchen der Sünden des Einzelnen, wird im ‚Requiem‘ damit beschrieben, dass die Posaunen jeden Sünder vor den Thron des Herren zwingen. Haben diverse Komponisten von ‚Requien‘ hier die Posaunen von Jericho erschallen lassen, so läßt Dvorak mithilfe der Trompeten fast verhalten das Leitmotiv in sich steigernder Tonlage erklingen. Er nimmt damit die Wucht aus dem Szenarium des
Fegefeuers und lässt den Chor mit ‚quando judex est venturus‘ (wenn der Richter gekommen sein wird) das Erscheinen des Weltenrichters in strenger Eindringlichkeit präsentieren.

3.5 Quid cum miser

Der nächste Vers aus der Sequenz, der sich mit dem Fegefeuer befasst, ist das ‚Quid cum miser‘, in dem der Sünder vor dem Jüngsten Gericht verzagt. Beginnend mit den Frauenstimmen des Chores wird hier Verzweiflung zelebriert und die emotionale Stimmung hellt sich auch mit dem Einsatz der Solisten und der Chormännerstimmen nicht auf. Sie steigert sich ins Dramatische, auch unter Zuhilfenahme des Leitmotivs. Die musikalische Lösung bringt dann der chorische Aufschrei „Rex tremendae“, von Solostimmen und Chor abwechselnd hinausgeschleudert: ‚König schrecklicher Gewalten, frei ist Deiner Gnade schalten, Gnadenquell, lass Gnade walten!‘ (Hörbeispiel V, Klavierauszug., a.a.O., V., T 57 – 73).

3.6 Recordare

Dieser Satz hat im Gesamtwerk eine zentrale Bedeutung: Zum einen ist er allein den Solostimmen vorbehalten, der Chor hat zu ruhen. Zum anderen ist hier die Bitte um Gnade so formuliert, dass sie gehört werden könnte, denn angesprochen wird hier jetzt Jesus Christus, dessen Kreuzestod erst die Grundlage für die umfassende Gnade liefert. Von den Holzbläsern eingeleitet und begleitet schimmert hier die Harmonik böhmischer Volksmusik durch den getragenen Satz.(Hörbeispiel VI, Klavierauszug., a.a.O., VI., T 1 – 35).

3.7 Confutatis

Hier hat Dvorak, zumindest im Beginn, Anleihen im Mozart’schen ‚Requiem‘ genommen. Das gesamte Klangrepertoire des Orchesters, seine Wucht, unterstützt durch die Pauken, kommt hier zum Tragen, um noch einmal an die Bilder des Entsetzens und der Verdammung – durchwoben von der leisen Bitte um Einreihung in die Schar der Gerechten – anzuknüpfen. Betont wird das durch die Dissonanzen der Streicher.

3.8 Lacrimosa

Im ‚Lacrimosa‘ endet der erste Teil des ‚Requiem‘. Es kann als Zusammenfassung des ersten Teiles mit seinen Bezügen zum
14 Fegefeuer (dies irae) und den inständigen Bitten um ewigen Frieden gelten, wobei das Leitmotiv sowohl von den Streichern, als auch von den Hörnern wiederholt intoniert wird. Chor und Solostimmen lösen sich korrespondierend ab, bis der Chor am Ende des Satzes in einem breit ausgestalteten ‚Amen‘, unterstützt von Fagott und Tuba, den Satz und damit den ersten Teil des ‚Requiems‘ ausklingen lässt.

3.9 Offertorium

Mit der Hinwendung an Jesus Christus, die Bitte an ihn, die Seelen der Verstorbenen von den Strafen der Hölle zu befreien, wird der Beginn des zweiten Teiles im Kontrast zur dunklen Klangfärbung des ersten Teils mit einem klaren D-Dur eröffnet, das im Verlauf noch nach C-Dur und später nach B-Dur moduliert. Die heimatverbundene Frömmigkeit Dvorak’s kommt hier zum Ausdruck, man wird unwillkürlich an einem sonnigen ländlichen Sonntag erinnert, an dem sich die Menschen des Dorfes versammeln. (Hörbeispiel VII, Klavierauszug., a.a.O., IX., T 78 – 101). Im Wechsel zwischen Solisten und Chor wird ein Marschbild geschaffen, in dem der Erzengel Michael vorangeht, um die geretteten Seelen in das heilige Licht zu begleiten. Danach folgt ein auf den Textteil „Quam olim Abrahae promisisti,…“ (Wie Du einst Abraham versprochen hast..) komponierter barocker Chorfugensatz, was in vielen Requienvertonungen nicht unüblich war. Dieser ist durchdrungen von der Melodik des böhmischen Chorals „Fröhlich lasst uns singen“.

3.10 Hostias

Im darauffolgenden Satz bringen Solostimmen und Chor die Opfergaben feierlich dar, welche der Rettung der verstorbenen Seelen dienen sollen. Die Bitte um Gnade konkretisiert sich zur Bitte um den Wechsel vom Tod zum Leben: „Fac eas, domine, de morte transire ad vitam,“ (Mach, Herr, dass sie vom Tod zum Leben hinübergehen.) Danach wird noch einmal auf den ‚Alten Bund‘ im Alten Testament Bezug genommen und die Fuge „Quam olim Abrahae…“ wird wiederholt.

3.11 Sanctus

Der fast jubelnde Charakter des zweiten Teils findet als Ausdruck der im vorigen Satz angedeuteten Lebensbejahung im ‚Sanctus‘ seinen Höhepunkt (Hörbeispiel VIII, Klavierauszug., a.a.O., XI., T 1 – 40). wird aber vom Komponisten im ‚Benedictus‘ (Gelobet sei, der da kommt, im Namen des Herren!) wieder mit lyrischer Zurückhaltung für eine Weile gedämpft, um dann aber mit dem Hymnus ‚Hosanna‘, in dem das komplet-te Orchester Chor und Solisten emporträgt, diesen Satz abzuschließen.

3.12 Pie Jesu

Dvorak fügt nun, indem er einen Textteil aus der Sequenz wiederholt, an dieser Stelle das „Pie Jesu, Domine, dona eis reqiem“ (Gnädiger Jesus, Herr, schenk ihnen Ruhe) in den Ablauf ein. Dabei wird das Leitmotiv im ‚dona‘ ausgedrückt.
Ganz leise, fast a-capella, nur mit Vorspiel und Zwischenspielen, baut sich in dem Satz der Männerchor auf, der in Folge in der führenden Linie von den Altstimmen verstärkt wird .Es folgen dann die drei oberen Solostimmen und der Chor beschließt diesen sanften Hymnus mit einem geteilten Bass.

3.13 Agnus Dei

Der letzte Satz, der mit dem ‚Agnus Dei‘ (das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt) den gesamten beschriebenen Prozess vom Tod zum Leben zusammenfasst, der in der Erlösung durch Christus allen Gnade widerfahren lässt, wird damit zum Höhepunkt des Werkes. Beginnend mit der Grundtonart b-moll und mit dem Aufgreifen des Leitmotivs vor Einsetzen des Tenorsolos und des Chores wird diese Glaubensgewissheit betont und unterstrichen. (Hörbeispiel IX, Klavierauszug., a.a.O., XIII., T 1 – 21). In diesem letzten Satz werden vom Komponisten noch einmal alle Steigerungsformen von Chor Orchester und Solisten durchgespielt, der Schrei nach Erlösung und dem ewigen Licht ist unüberhörbar. Aber das ‚Requiem‘ endet schließlich ruhig und andächtig, nur unterbrochen von einem letzten Aufflackern des Todesmotivs.

4. Facit

Das Dvorak’sche ‚Requiem‘ ist eine der ganz großen Kompositionen des 19. Jahrhunderts: Totenmesse und Oratorium, Symphonische Dichtung und meisterhaftes kompositorisches Experiment. Es hat nicht wenige Stimmen gegeben, die seine Adaptionen volksverbundenen Musiklebens diskriminierend entwertet haben. Diese Überheblichkeit übersah dabei zweierlei: Zum Einen gab es diese Ambitionen bei anderen, z.B. klassischen Komponisten wie Mozart und Haydn auch, die haben so manchen Ländler in ihre Kompositionen eingebaut! Und zum Anderen: wer in das ‚Requiem‘ aufmerksam hineinhört und es durcharbeitet, wird feststellen, welche theologische und psychologische Tiefe und Vielfalt der musikalischen Ausdrucksformen in ihm stecken. Ich hoffe, ich konnte Ihnen davon ein wenig nahebringen!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Literatur und Quellen:

BRAUN, L.:
Requiem (b-moll), op. 89, B 165
in:
LEOPOLD, S./SCHEIDELER, U.: Oratorienführer, Stuttgart – Weimar –
Kassel, 2000, S. 194 f.


BURGHAUSER, J.:
Booklet zu: CD DVORAK, A.: ‚Requiem‘,
Czech Philharmonic Chorus and Orchestra,
Conductor: Wolfgang Sawallisch, Prague 1984


DVORAK, A. :
Requiem op. 89 – Klavierauszug _
in:
EDITION Peters Nr.8701, Frankfurt – Leipzig – London – New York, o.J.
GROSSKREUTZ, V.:
Eine Totenmesse für den Konzertsaal – Zum Requiem von Antonin
Dvorak, (o.J.)
in:
www.verenagrosskreutz.de/pdf/dvorakweb.pdf,
18
MÖLLER, D.:
Requiem b-moll op. 89 ,
in:
GEBHARD, H. (Hrsg) : Harenberg Chormusikführer – Vom Kammerchor
bis zum Oratorium, Dortmund 1999, S. 266-268
SCHERNUS, H.:
Vorwort zu: Dvorak, A. ‚Reqiem‘
in:
DVORAK, A., a.a.O.
SCHICK, H. :
„Wahre kirchliche Atmosphäre“ und avancierte Kompositionstechnick:
Bemerkungen zu Dvorak’s Requiem op. 89,
in:
Gabrielova, J./Kachlik, J.: The Work of Antonin Dvorak (1888841-1904) –
Aspects of Composition – Problems of Editing – Reception,
Prague 2007, page 82 ff.

© Friedhelm Arnoldt
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