3.1 Requiem aeternam / Kyrie
Das ‚Requiem’ beginnt mit zwei Takten, in denen das Leitmotiv des gesamten Opus vorgestellt und in der Folge variiert wird. (Hörbeispiel I, Klavierauszug Edition PETERS, Nr. 8701, I., T 1 – 15) .
„In der Verschränkung seiner Tonschritte könnte es als Symbol des Kreuzes gedeutet werden“ (SCHERNUS, H., o.S.)
Damit wird der Tod als ein das ‚Requiem‘ bestimmende Thema zum strukturellen Ordnungsprinzip, welches immer wieder aus dem Stimmgeflecht des Stückes hervorscheint – kunstvoll abgewandelt in Tonart, Rhythmus, Taktart und Klangfarbe. Das viertönige chromatische Motiv f-ges-e-f wird wie aus dem Nichts von den Streichern – pianissimo und con sordino (gedämpft) – in der Grundtonart b-moll intoniert, einer Tonart, die gerade in der Romantik häufig genutzt wird. Entsprechend dem Inhalt des ‚Introitus‘ mit seiner Anfangszeile „Requiem aeternam dona eis, Domine!“ läßt Dvorak im ersten Satz den Chor – kurz unterbrochen durch die Solostimmen – in friedvollen Tönen die demütige Bitte um ewigen Frieden formulieren. Und trotz der Gewissheit des Todes drückt sich hier die gleichzeitige Gewissheit aus, dass den Toten ewiges Licht – ‚lux aeterna‘ – leuchtet, womit unzweifelhaft das ewige Leben gemeint ist.
In der klassischen Requiem-Liturgie ist das ‚Kyrie‘ – die Bitte an Gott, sich zu erbarmen – ein eigenständiger Satz. Dvorak indes integriert es aber in das ‚Introitus‘: die Bitte um Erbarmen schließt damit eng an die Bitte um ewigen Frieden an.(Hörbeispiel II, Klavierauszug., a.a.O., I., T 128 – 151). Die Chorbässe beginnen das ‚Kyrie‘ mit b-ces-a-b-b,: also unverkennbar mit dem Leitmotiv. Sie leiten damit einen ganz kurzen, mit den anderen Chorstimmen fugal korrespondierenden Abschnitt ein, um dann das Kyrie im polyphonen Hymnus aller Chorstimmen einmünden zu lassen, den dann die Blechbläser des Orchesters beenden.
3.2 Graduale
Die Wiederholung der Bitte um Frieden durch die Sopransolistin – beginnend mit denselben Tönen des Leitmotivs wie der vorherige Chorbass, aber in der entsprechenden Tonlage – unterstreicht noch einmal die Nachdrücklichkeit des ‚Introitus‘ und die für das ganze Stück sich ergebende Bedeutung des Leitmotivs (Hörbeispiel III, Klavierauszug.,
a.a.O., II., T 1 – 12). In der Folge der Sopranarie – eingerahmt von den Frauenstimmen des Chores zu Beginn und den Männerstimmen am Ende – kommt mit dem eindringlich vorgetragenen, zwischendurch nach C-dur modulierten Graduale die Relativierung des Todesthemas zum Vorschein. Denn „…in memoria aeterna erit justus…“ (In ewigem Gedenken wird der Gerechte fortleben….) und: „…ab auditione mala non timebit!“ (…vor dem Bösen braucht er sich nicht zu fürchten!). Man könnte
meinen, hier wäre der Angst vor dem Fegefeuer die Spitze genommen..
3.3 Dies irae
Der Satz ‚Dies Irae‘ – die ‚Tage des Zornes‘ – beschreibt die Furchtbarkeit und die Dramatik des Fegefeuers. Dvorak wird dem
gerecht, indem er vor allem mit den liegenden Stimmen der tiefen Instrumente – u.a. der Bassklarinette – und des Orgelpedals in Verbindung mit den Paukenwirbeln das Inferno des Jüngsten Gerichtes lautmalerisch in Szene setzt. Gleichzeitig nimmt er die Gesangssolisten aus diesem dramatischen Szenario. Der Chor hat hier – neben dem Orchester – die durch den gesamten Satz hindurchlaufende Aufgabe, die Inszenierung von Höllenangst und ewiger Verdammnis darzustellen. (Hörbeispiel IV, Klavierauszug., a.a.O., III., T 1 – 57).
3.4 Tuba mirum
Die Fortsetzung des Jüngsten Gerichtes, seine Konkretisierung nach dem Verfahren der Recherchen der Sünden des Einzelnen, wird im ‚Requiem‘ damit beschrieben, dass die Posaunen jeden Sünder vor den Thron des Herren zwingen. Haben diverse Komponisten von ‚Requien‘ hier die Posaunen von Jericho erschallen lassen, so läßt Dvorak mithilfe der Trompeten fast verhalten das Leitmotiv in sich steigernder Tonlage erklingen. Er nimmt damit die Wucht aus dem Szenarium des
Fegefeuers und lässt den Chor mit ‚quando judex est venturus‘ (wenn der Richter gekommen sein wird) das Erscheinen des Weltenrichters in strenger Eindringlichkeit präsentieren.
3.5 Quid cum miser
Der nächste Vers aus der Sequenz, der sich mit dem Fegefeuer befasst, ist das ‚Quid cum miser‘, in dem der Sünder vor dem Jüngsten Gericht verzagt. Beginnend mit den Frauenstimmen des Chores wird hier Verzweiflung zelebriert und die emotionale Stimmung hellt sich auch mit dem Einsatz der Solisten und der Chormännerstimmen nicht auf. Sie steigert sich ins Dramatische, auch unter Zuhilfenahme des Leitmotivs. Die musikalische Lösung bringt dann der chorische Aufschrei „Rex tremendae“, von Solostimmen und Chor abwechselnd hinausgeschleudert: ‚König schrecklicher Gewalten, frei ist Deiner Gnade schalten, Gnadenquell, lass Gnade walten!‘ (Hörbeispiel V, Klavierauszug., a.a.O., V., T 57 – 73).
3.6 Recordare
Dieser Satz hat im Gesamtwerk eine zentrale Bedeutung: Zum einen ist er allein den Solostimmen vorbehalten, der Chor hat zu ruhen. Zum anderen ist hier die Bitte um Gnade so formuliert, dass sie gehört werden könnte, denn angesprochen wird hier jetzt Jesus Christus, dessen Kreuzestod erst die Grundlage für die umfassende Gnade liefert. Von den Holzbläsern eingeleitet und begleitet schimmert hier die Harmonik böhmischer Volksmusik durch den getragenen Satz.(Hörbeispiel VI, Klavierauszug., a.a.O., VI., T 1 – 35).
3.7 Confutatis
Hier hat Dvorak, zumindest im Beginn, Anleihen im Mozart’schen ‚Requiem‘ genommen. Das gesamte Klangrepertoire des Orchesters, seine Wucht, unterstützt durch die Pauken, kommt hier zum Tragen, um noch einmal an die Bilder des Entsetzens und der Verdammung – durchwoben von der leisen Bitte um Einreihung in die Schar der Gerechten – anzuknüpfen. Betont wird das durch die Dissonanzen der Streicher.
3.8 Lacrimosa
Im ‚Lacrimosa‘ endet der erste Teil des ‚Requiem‘. Es kann als Zusammenfassung des ersten Teiles mit seinen Bezügen zum
14 Fegefeuer (dies irae) und den inständigen Bitten um ewigen Frieden gelten, wobei das Leitmotiv sowohl von den Streichern, als auch von den Hörnern wiederholt intoniert wird. Chor und Solostimmen lösen sich korrespondierend ab, bis der Chor am Ende des Satzes in einem breit ausgestalteten ‚Amen‘, unterstützt von Fagott und Tuba, den Satz und damit den ersten Teil des ‚Requiems‘ ausklingen lässt.
3.9 Offertorium
Mit der Hinwendung an Jesus Christus, die Bitte an ihn, die Seelen der Verstorbenen von den Strafen der Hölle zu befreien, wird der Beginn des zweiten Teiles im Kontrast zur dunklen Klangfärbung des ersten Teils mit einem klaren D-Dur eröffnet, das im Verlauf noch nach C-Dur und später nach B-Dur moduliert. Die heimatverbundene Frömmigkeit Dvorak’s kommt hier zum Ausdruck, man wird unwillkürlich an einem sonnigen ländlichen Sonntag erinnert, an dem sich die Menschen des Dorfes versammeln. (Hörbeispiel VII, Klavierauszug., a.a.O., IX., T 78 – 101). Im Wechsel zwischen Solisten und Chor wird ein Marschbild geschaffen, in dem der Erzengel Michael vorangeht, um die geretteten Seelen in das heilige Licht zu begleiten. Danach folgt ein auf den Textteil „Quam olim Abrahae promisisti,…“ (Wie Du einst Abraham versprochen hast..) komponierter barocker Chorfugensatz, was in vielen Requienvertonungen nicht unüblich war. Dieser ist durchdrungen von der Melodik des böhmischen Chorals „Fröhlich lasst uns singen“.
3.10 Hostias
Im darauffolgenden Satz bringen Solostimmen und Chor die Opfergaben feierlich dar, welche der Rettung der verstorbenen Seelen dienen sollen. Die Bitte um Gnade konkretisiert sich zur Bitte um den Wechsel vom Tod zum Leben: „Fac eas, domine, de morte transire ad vitam,“ (Mach, Herr, dass sie vom Tod zum Leben hinübergehen.) Danach wird noch einmal auf den ‚Alten Bund‘ im Alten Testament Bezug genommen und die Fuge „Quam olim Abrahae…“ wird wiederholt.
3.11 Sanctus
Der fast jubelnde Charakter des zweiten Teils findet als Ausdruck der im vorigen Satz angedeuteten Lebensbejahung im ‚Sanctus‘ seinen Höhepunkt (Hörbeispiel VIII, Klavierauszug., a.a.O., XI., T 1 – 40). wird aber vom Komponisten im ‚Benedictus‘ (Gelobet sei, der da kommt, im Namen des Herren!) wieder mit lyrischer Zurückhaltung für eine Weile gedämpft, um dann aber mit dem Hymnus ‚Hosanna‘, in dem das komplet-te Orchester Chor und Solisten emporträgt, diesen Satz abzuschließen.
3.12 Pie Jesu
Dvorak fügt nun, indem er einen Textteil aus der Sequenz wiederholt, an dieser Stelle das „Pie Jesu, Domine, dona eis reqiem“ (Gnädiger Jesus, Herr, schenk ihnen Ruhe) in den Ablauf ein. Dabei wird das Leitmotiv im ‚dona‘ ausgedrückt.
Ganz leise, fast a-capella, nur mit Vorspiel und Zwischenspielen, baut sich in dem Satz der Männerchor auf, der in Folge in der führenden Linie von den Altstimmen verstärkt wird .Es folgen dann die drei oberen Solostimmen und der Chor beschließt diesen sanften Hymnus mit einem geteilten Bass.
3.13 Agnus Dei
Der letzte Satz, der mit dem ‚Agnus Dei‘ (das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt) den gesamten beschriebenen Prozess vom Tod zum Leben zusammenfasst, der in der Erlösung durch Christus allen Gnade widerfahren lässt, wird damit zum Höhepunkt des Werkes. Beginnend mit der Grundtonart b-moll und mit dem Aufgreifen des Leitmotivs vor Einsetzen des Tenorsolos und des Chores wird diese Glaubensgewissheit betont und unterstrichen. (Hörbeispiel IX, Klavierauszug., a.a.O., XIII., T 1 – 21). In diesem letzten Satz werden vom Komponisten noch einmal alle Steigerungsformen von Chor Orchester und Solisten durchgespielt, der Schrei nach Erlösung und dem ewigen Licht ist unüberhörbar. Aber das ‚Requiem‘ endet schließlich ruhig und andächtig, nur unterbrochen von einem letzten Aufflackern des Todesmotivs.
4. Facit
Das Dvorak’sche ‚Requiem‘ ist eine der ganz großen Kompositionen des 19. Jahrhunderts: Totenmesse und Oratorium, Symphonische Dichtung und meisterhaftes kompositorisches Experiment. Es hat nicht wenige Stimmen gegeben, die seine Adaptionen volksverbundenen Musiklebens diskriminierend entwertet haben. Diese Überheblichkeit übersah dabei zweierlei: Zum Einen gab es diese Ambitionen bei anderen, z.B. klassischen Komponisten wie Mozart und Haydn auch, die haben so manchen Ländler in ihre Kompositionen eingebaut! Und zum Anderen: wer in das ‚Requiem‘ aufmerksam hineinhört und es durcharbeitet, wird feststellen, welche theologische und psychologische Tiefe und Vielfalt der musikalischen Ausdrucksformen in ihm stecken. Ich hoffe, ich konnte Ihnen davon ein wenig nahebringen!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Literatur und Quellen:
BRAUN, L.:
Requiem (b-moll), op. 89, B 165
in:
LEOPOLD, S./SCHEIDELER, U.: Oratorienführer, Stuttgart – Weimar –
Kassel, 2000, S. 194 f.
BURGHAUSER, J.:
Booklet zu: CD DVORAK, A.: ‚Requiem‘,
Czech Philharmonic Chorus and Orchestra,
Conductor: Wolfgang Sawallisch, Prague 1984
DVORAK, A. :
Requiem op. 89 – Klavierauszug _
in:
EDITION Peters Nr.8701, Frankfurt – Leipzig – London – New York, o.J.
GROSSKREUTZ, V.:
Eine Totenmesse für den Konzertsaal – Zum Requiem von Antonin
Dvorak, (o.J.)
in:
www.verenagrosskreutz.de/pdf/dvorakweb.pdf,
18
MÖLLER, D.:
Requiem b-moll op. 89 ,
in:
GEBHARD, H. (Hrsg) : Harenberg Chormusikführer – Vom Kammerchor
bis zum Oratorium, Dortmund 1999, S. 266-268
SCHERNUS, H.:
Vorwort zu: Dvorak, A. ‚Reqiem‘
in:
DVORAK, A., a.a.O.
SCHICK, H. :
„Wahre kirchliche Atmosphäre“ und avancierte Kompositionstechnick:
Bemerkungen zu Dvorak’s Requiem op. 89,
in:
Gabrielova, J./Kachlik, J.: The Work of Antonin Dvorak (1888841-1904) –
Aspects of Composition – Problems of Editing – Reception,
Prague 2007, page 82 ff.
© Friedhelm Arnoldt
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