Wie Musik Kinder von der Straße holt

Im Venezuelan Brass Ensemble spielen die besten Blechmusiker Venezuelas. Sie entstammen dem musikpädagogischen Jugendprojekt El Sistema.

Interview Dirigent Thomas Clamor über den Zauber des Venezuelan Brass Ensemble

28.09.2022; Der Patriot

Lippstadt – Mit dem Venezuelan Brass Ensemble gastiert am Donnerstag ein Orchester mit einem besonderen Hintergrund im Lippstädter Stadttheater. Die Mitglieder des Venezuelan Brass Ensemble entstammen einem Projekt, das der Ökonom, Politiker, Pädagoge und Komponist José Antonio Abreu 1975 in Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, gegründet hat. „El Sistema“ bietet Straßenkindern kostenlosen Musikunterricht an. Daraus hervorgegangen ist das Venezuelan Brass Ensemble. Wir haben den künstlerischen Leiter, Professor Thomas Clamor, in der Nähe von Wien für ein Interview erreicht. Im Stift Melk bereiteten sich die Musiker auf ihre zweiwöchige Tour vor.

Herr Clamor, wie können wir uns die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und den Musikern vorstellen? Sie leben in Berlin, die Mitglieder des Ensembles in Venezuela. Regelmäßige Proben sind bei der Entfernung sicherlich schwierig.

Ich arbeite mit El Sistema seit über 20 Jahren zusammen. Bis 2017 bin ich vier bis fünf Mal im Jahr nach Venezuela gereist. Aber durch die nicht einfache Situation in Venezuela selbst, die verschlechterte Sicherheitslage, war ich seit 2018 nicht mehr da. Ich habe aber Assistenten in Venezuela, die das Programm mit den Musikern vorbereiten. In der Probenphase vor der Tour arbeite ich das Programm dann aus.

Sind die Mitglieder des Orchesters ehemalige Straßenkinder, die über das Projekt von José Antonio Abreu zur Musik gekommen sind?
Die Musiker sind Spitzenleute aus den besten Symphonieorchestern Venezuelas. Sie sind gleichzeitig auch Lehrer des Sistem und unterrichten an den Nucleus (El-Sistema-Zentren, Anm. d. Red.). Sie sind alle groß geworden im Sistem.

Das Sistem ist ja gewachsen seit der Gründung 1975. Wendet es sich nach wie vor nur an Straßenkinder?
Es sind nicht nur Straßenkinder aus den Bareos, den Armenvierteln Venezuelas. Jeder kann dort hinkommen und lernt ein Instrument, das ihm übrigens zur Verfügung gestellt wird. Inzwischen werden dort eine Million Kinder dort unterrichtet und es werden immer mehr.

Wie sind Sie aufmerksam geworden auf El Sistema?
Ich war Mitglied der Berliner Philharmoniker. Mein Chef, Claudio Abbado, erzählte, dass das Jugendorchester des El Sistema, das Simon Bolivar Youth Orchester, beim Jeunesses Musicales auftreten. Das war damals im Rahmen der Expo 2000. Der Gründer rief dann an und fragte, ob ich Lust habe, zu kommen. Ich habe selten ein Konzert erlebt, wo ich nach fünf Minuten schon nicht mehr sitzen konnte. 250 Kinder spielten mit so einer Lust. Man hat mich dann gefragt, ob ich Lust hätte, eine Masterclass in Venezuela zu machen. Ich wusste noch nicht, dass mit dem Projekt eine soziokulturelle Perspektive verfolgt wird. Erst nach dem ersten Besuch habe ich das richtig verstanden. Und dann hat es mich richtig angesprochen. Dass die Kinder dann auch noch so ein schwieriges Programm spielen, in so einer Qualität – das ist bei uns eher unüblich.

Was erwartet die Zuschauer in Lippstadt?
Das Programm heißt „We got Rhythm“, also viele lateinamerikanische Rhythmen und auch Populärmusik, die aber schon mit einer Interpretation klassischer Ausrichtung – nicht immer, aber hier und da. Ich glaube, dass es ein extrem kurzweiliges Programm ist. Was ich eigentlich niemals tue: während eines Konzerts sprechen. Aber ich werde ein paar Worte verlieren über die Herkunft der Musiker. Wie Kindern in einem Dritte-Welt-Land so eine Möglichkeit gegeben wird, einen neuen Lebensweg zu finden. Weg von Armut und Kriminalität. Man sieht, wie sinnvoll so eine Arbeit ist. Zehntausende Kinder haben eine Existenz gefunden.

Wie hat die Musik den weiteren Lebensweg der Kinder beeinflusst?
Da wo Musik gemacht wird, wird nicht gekämpft. Die Kinder erleben das erste Mal Dank, also eine Wertschätzung für das, was sie tun. Sie finden einen neuen Weg für sich und versuchen, den zu verfolgen. Inzwischen sind sogar im Obersten Gerichtshof von Venezuela Menschen vertreten, die dem Sistem entsprungen sind. Andere sind Ärzte, Rechtsanwälte oder Handwerker geworden. Viele sind aber auch im Sistem geblieben: Wenn eine Million Kinder unterrichtet werden, dann braucht man viele Lehrer und Pädagogen.

Wie ist es El Sistema während der Pandemie ergangen?
Venezuela hat genauso gekämpft mit der Pandemie wie wir. Aber das Land liegt nah am Äquator, das Leben spielt sich draußen ab. Die Lehrer haben versucht, wo es möglich war, online zu unterrichten. Jetzt lebt El Sistema wieder auf.

Das Interview wurde geführt
von Kristina Rückert.

Thomas Clamor / Dirigent