Meisterhaft und ausgefeilt

Pianist Alexander Melnikov brilliert in Konzert des Lippstädter Musikvereins

Lippstadt Ein Kammerkonzert kann für den Veranstalter wahrlich nervenzerrend sein. Kann der erwartete Künstler überhaupt kommen, wo allerorten Flüge kurzzeitig gecancelt wurden? Ein Ersatzflug glückte. Der Veranstalter holt den Gast an einem anderen Flughafen ab. Doch er muss auf der Rückfahrt noch eine Autobahnvollsperrung weiträumig umfahren.

Das war nötig, um einen wunderbaren Klavierabend des Lippstädter Musikvereins mit dem vielgelobten Pianisten Alexander Melnikov in der Jakobikirche möglich zu machen. Dem jedenfalls war nichts anzumerken von der beschwerlichen Anreise. Mit großer Konzentration stellte er zu Beginn das Hauptthema der „Zwölf sinfonischen Etüden in Variationsform“ op. 13 von Robert Schumann vor, mit dem sich der Komponist in seinen Variationen auf je sehr spezifische Weise einlässt. Er geht nicht nur hier seine kompositorisch eigenen Wege, die ihm oft das Unverständnis seiner Kollegen oder gar seiner Frau Clara bescherten.

Was er in den „Sinfonischen Etüden“ dem recht einfachen Thema seines Beinaheschwiegervaters Baron von Fricken abgewinnt, zeigt völlig ungewöhnliche kompositorische Spuren. Und gerade diesen geht Alexander Melnikov mit großer Intensität und Feingespür für die Vielgesichtigkeit und das weitgespannte Farbspektrum nach.

Das zweite Werk des Programms, die „Sieben Phantasien op. 116“ von Johannes Brahms, scheinen wie eine Fortsetzung der „Sinfonischen Etüden“ des Freundes Robert Schumann. Sie sind von gleicher Leidenschaftlichkeit, kraftvoll und von emotionaler Tiefe. Alexander Melnikov spielte sie mit energiegeladener Intensität, ohne Effekthascherei immer aus der Musik selbst schöpfend mit höchster Anschlagskultur. So gelingen ihm die unterschiedlichsten Stimmungswerte der aufbegehrenden Capricci ebenso eindrucksvoll, wie die klingenden Gefühlswelten der Intermezzi. Auf diese Weise entsteht der Einblick in die geschlossene formale Anlage der Komposition von Johannes Brahms.

Größte Begeisterung (und Erschöpfung) des Publikums aber erspielte der begnadete Pianist mit der Auswahl von zwölf „Präludien und Fugen“ von Dmitrij Schostakowitsch. Vorbild dazu ist (auch biographisch belegt) das „Wohltemparierte Klavier“ von Johann Sebastian Bach und ist doch von einer hochkünstlerischen Selbständigkeit. So ist ein Werk entstanden, dessen innere Spannungsbreite, Vielfarbigkeit und emotionale Tiefe Alexander Melnikov mit ebensolchem hinreißenden Engagement wie einer bei dieser Komposition notwendigen künstlerischen Distanz spielte.

Auf dieser Höhe völlig unaufgesetzter technischer Brillanz und musikalischer Durchdringung des kompositorischen Geflechts spielen heute wenige Interpreten seiner Generation – ich kenne nur Bernd Glemser. Es ist lohnend, sich mit dem Komponisten Dmitrij Schostakowitsch und seinem Umfeld bei der Entstehung seiner „Präludien und Fugen“ zu befassen, wozu ich den jüngst erschienenen Roman „Der Lärm der Zeit“vonJulian Barnes empfehlen kann. Und danach noch einmal die CD des live noch hinreißenderen Alexander Melnikov. Die Zuhörer in der Jakobikirche schienen sich jedenfalls bewusst zu sein, ein musikalisches Ereignis erlebt zu haben.