Über 400 aus der Ukraine geflüchteten Musikerinnen und Musikern hilft die im März 2022 gegründete Plattform Mriya dabei, in ihrem Beruf neue Wege zu gehen. Das aus dem Projekt hervorgegangene gleichnamige Exilorchester begeisterte am Sonntag im Lippstädter Stadttheater. Mit dabei waren die ukrainische Pianistin Kateryna Titova und die Violinistin Annette von Hehn, die beide bereits mehrfach beim Musikverein zu Gast waren. Die Leitung hatte Burkhard A. Schmitt.
16.01.2024; Der Patriot
Von Marion Heier
Lippstadt – Es geht gleich ans Eingemachte, insbesondere emotional. Mit der „Melodie“ des ukrainischen Komponisten Myroslav Skoyk eröffnen die gut 20 Musikerinnen und Musiker des Exilorchesters Mriya den Abend, einer bedeutungsvollen Sehnsuchtsmelodie in a-Moll, die Skoyk 1982 für den sowjetischen Kriegsfilm „High Mountain Pass“ schrieb und die heute, angesichts des brutalen russischen Angriffskrieges, für viele Ukrainer zu einer spirituellen Hymne des Landes geworden ist.
Filmisches Potenzial ist hör- und spürbar
Ohne ins Programm zu schauen wird das filmische Potenzial hör- und spürbar, schmiegen sich die von sonoren Celli und Kontrabass begleiteten elegischen Streicher ans Ohr. Harmonien und Phrasierungen sind raffiniert gesetzt. Wenn auch im Kleinen, so offenbart sich die opulente Kraft sinfonischer Dichtung und drückt das aus, wozu Worte nicht mehr ausreichen.
Es ist die emotionale Kraft des Programms, mit dem das Orchester eine hohe Marke setzt und mit dem es fesselt. Da kommt das Doppelkonzert für Violine, Klavier und Orchester von dem damals 14-jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy zwar als ein groß angelegtes Werk, aber doch eines von unbeschwerter Stimmung daher.
Ad hoc gibt es stehende Ovationen
Als Vorlage für die beiden Solistinnen ist das Konzert bestens geeignet, denn es erlaubt im Dialog zwischen kammermusikalischem Orchester und Solo auch die Kombination zweier Soloinstrumente, Klavier und Violine. Die Möglichkeiten der Kontrastierung und des Klangfarbenreichtums wissen Kateryna Titova und Annette von Hehn im Wechselspiel mit dem Orchester großartig umzusetzen.
Neben virtuos ausgeführten Figurationen und rasanten Läufen ist es eine extrem miteinander kokettierende Dynamik mit hohem, vorwärtstreibendem Wellengang, die dem Werk tiefgründiges Charisma verleiht. Für Kateryna Titova und Annette von Hehn gibt es ad hoc stehende Ovationen.
Stehend geht es auch für das Orchester – zumindest für die Violinen und Bratschen – weiter, was fürs Publikum eher ungewöhnlich, aber in der Probenpraxis durchaus üblich ist. Es unterstreicht die Intention nach größerer Ausdruckskraft. So eröffnet sich den Musikern ein viel weiteres Feld, können sie in weiterem Bogen ausholen und dem Spiel mehr Volumen und Dynamik entlocken.
Geschrieben in den Wirren des Krieges
Das ist angesichts der an Schostakowitsch angelehnten, episch komponierten „Suite über Volksthemen“ von Borys Lyatoshynsky ein wirkungsvoller Schachzug. Der zu Lebzeiten weniger gewürdigte Komponist schrieb die Suite in den Wirren des Zweiten Weltkrieges, als er selbst auf der Flucht war. Die dem Werk zugrunde liegenden ukrainischen Volkslieder dienten ihm dazu, sich seiner musikalischen Identität zu vergewissern. Aktueller geht es nicht.
Edward Elgars Streicherserenade ist ein Frühwerk des englischen Komponisten, der darin sehr klangmalerisch unterwegs ist und sowohl der Ersten Geige, als auch der warmen Bratsche in lyrischen Melodiebögen den Vortritt lässt. Und auch in Gustav Holsts „St Pauls Suite“ ist es vor allem die Erste Geige, die im volkstümlichem Jig mitreißt. Eigentlich geschrieben fürs Schulorchester, wagt sich Holst mit der Tradition im Herzen schwungvoll und dynamisch an Neues heran, wovon die irisch anmutenden, pentatonisch angelegten Sätze zeugen.
Das dürfte auch die Botschaft des Exilorchesters sein. Respekt!
Annette von Hehn war bereits mehrfach mit dem Atos Trio in Lippstadt zu Gast.
Burkhard A. Schmitt übernahm die musikalische Leitung im Stadttheater.
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